Einwanderung und Auswanderung
Nach Ende des 30jährigen Krieg setzte um 1650 eine Wanderungsbewegung
in den Kraichgau ein, die bis ca. 1720 andauern sollte. Das völlig entvölkerte
und in weiten Teilen zerstörte Land benötigte Menschen für den Wieder-
aufbau. Insbesondere Pfalzgraf Karl Ludwig rief Bürger in anderen Ländern
dazu auf, in die kurpfälzischen Dörfer zu kommen, um die verlassenen
Bauernhöfe, die Mühlen und die Gutshöfe des Adels zu übernehmen und zu
bewirtschaften. Reformierte (Calvinisten) und Täufer (Mennoniten) aus der
Schweiz, die vom Krieg nicht betroffen war und der ein Bevölkerungs-
überschuss drohte, nahmen die Offerte an und kamen in den Kraichgau.
Auf dem Streichenberg sind Schweizer Mennoniten seit 1661 belegt. Diese
Bevölkerungsgruppe war nur auf den Hofgütern des Adels und auf den
außerhalb der Dörfer liegenden Mühlen geduldet, denn sie galten wegen ihrer
Kompromisslosigkeit in Glaubensfragen als Sektierer, standen in Opposition zu
den Amtskirchen und galten wegen ihrer konsequenten Ablehnung des
Kriegsdienstes als Staatsfeinde. Viele Täufer kamen über das Elsass in den
Kraichgau und zogen von hier aus weiter nach Pennsylvania, wo ihnen die
uneingeschränkte Religionsausübung erlaubt war.
In das lutherische Gemmingen scheinen zunächst erst einmal Reformierte
aus dem Kanton Zürich zugewandert zu sein. Jacob Schnebele und seine
Ehefrau Verena geb. Bickel bewirtschafteten mit mehreren Kindern vor 1680
einen ‘Freihof’. Die Familien Bär, Dubs, Fantz und Mayer sind alle ebenfalls
schon vor 1700 in den Gemminger Kirchenbüchern belegt.
Hier waren es religiöse und politische Gründe, die die Menschen zur
Auswanderung bewogen, dort lagen die Ursachen vielleicht in einer schlimmen
Naturkatastrophe, in einem grausamen Krieg oder in ethnischer Verfolgung.
Ebenso sind lang erduldete Missstände oder manchmal sogar die Stimmung
des momentanen Augenblicks Auslöser für die Suche nach einer Möglichkeit,
irgendwo anders ein besseres Leben beginnen zu können.
Für die Menschen im Kraichgau dürfte es im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert in den meisten Fällen die
wirtschaftliche Perspektivlosigkeit gewesen sein, die ganze Familien zur Auswanderung bewogen. In den
Realteilungsgebieten Südwestdeutschlands wurden alle Erben eines Bauernhofes mit Grundstücken bedacht.
Daher wurden die Betriebe und Ackerflächen mit jedem Erbgang immer kleiner, und es bestand die
Notwendigkeit, außerhalb der Landwirtschaft zusätzliches Einkommen zu erwirtschaften oder auszuwandern.
Dabei war es gar nicht so einfach wegzukommen, denn man musste um Auswanderungserlaubnis
nachsuchen, und erst wenn alles geregelt und alle Schulden getilgt waren, erhielt man vielleicht eine
Genehmigung. Vermutlich erste Auswanderer aus Gemmingen waren Heinrich Bär, Lorenz Beck, Hans Michael
Klaar, Hans Michael Mühläcker, Hans Michael und Matthäus Schmid und Philipp Joseph Weber, die allesamt mit
ihren Ehefrauen und Kindern im Jahre 1717 die gefährliche Fahrt über den atlantischen Ozean wagten.
Gemeinsames Ziel war Pennsylvania, wo bereits eine starke deutsche Kolonie siedelte.
Auch die spätere Auswanderung Gemminger Bürger nach Russland zwischen 1809 und 1847 dürfte
ökonomisch motiviert gewesen sein. Im Vergleich zu anderen Dörfern nahmen nur wenige Familien aus
Gemmingen das Angebot der russischen Zaren an, in den dünn besiedelten Grenzgebieten des Riesenreiches
landwirtschaftliche Pionierarbeit zu leisten.
Dafür zog es viele Gemminger Bürger zwischen 1840 und 1900 in einer zweiten Auswanderungswelle in die
USA. Seitens der badischen Regierung unterstützte man nun häufig die Auswanderungsgesuche, denn man
hatte erkannt, dass man so gezielt Bevölkerungspolitik betreiben und sich insbesondere der armen Familien
entledigen konnte. Nach Amerika dürften damals über 300 Gemminger ausgewandert sein. Die genaue Anzahl
lässt sich nur schwer ermitteln, weil oft nur die Familienoberhäupter, selten die Ehefrauen und in den
wenigsten Fällen die Kinder in den Auswanderungsakten Erwähnung fanden. Nicht aktenkundig sind die
illegalen Auswanderungen, die es in einer nicht zu vernachlässigbaren Zahl ebenfalls gab.
Nach dem 2. Weltkrieg wurden viele Deutschstämmige aus den Ländern, in die sie einmal eingewandert
waren, vertrieben und mussten unfreiwillig in die alte Heimat zurückkehren. Nach dem Zusammenbruch der
osteuropäischen ‘Volksdemokratien’ wählten viele noch in diesen Ländern verbliebene Deutschstämmige dann
aber freiwillig den Weg zurück in das wirtschaftlich erfolgreiche Deutschland der 1990er Jahre. Der Prozess der
Auswanderung und in den letzten Jahrzehnten der Einwanderung, ob als Rückkehr oder als Flucht vor
Perspektivlosigkeit, Hunger, Willkür oder Krieg, ob gewollt oder ungewollt, hat nichts an Dynamik verloren und
beeinflusst die jüngere deutsche Geschichte maßgeblich mit.