Der Hexenprozess von 1563
Wer im Verdacht stand, Unheil über ein Dorf oder deren Einwohner gebracht
zu haben, wen man mit Zauberkräften ausgestattet im Bund mit dem Teufel
und Dämonen glaubte, und wer in der Lage schien, Schadenszauber mit
verhängnisvoller Wirkung über Mensch und Tier auszusprechen, galt als Hexe.
Auf dem Höhepunkt der Hexenverfolgung in Europa in der Frühen Neuzeit
zwischen 1550 und 1650 waren besonders Frauen gefährdet, die sozial
auffällig lebten oder als Hebammen und Kräuterweiblein überliefertes Wissen
über Heilkräuter und deren Anwendung besaßen.
Die Hexenverfolgung entwickelte eine Eigendynamik, die weder von der
Kirche noch von der herrschenden Schicht gebremst wurde. Wer immer in
dieser Zeit der tiefgreifenden religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Umwäl-
zungen auffällig oder missliebig war, lief Gefahr, der Hexerei bezichtigt zu
werden. Dabei spielte es kaum eine Rolle, wer die Anschuldigung aussprach
oder vorbrachte oder wie aberwitzig der Verdacht schien. Einmal in den
Mühlen der Justiz, gab es kaum ein Entrinnen. Die Akten des Gemminger
Hexenprozesses von 1563 beweisen in tragisch erschreckender Weise die
Bemühungen des Gerichts um Wahrheitsfindung in einem von überforderten
Laien durchgeführten Verfahren, das von vornherein aber nur eine Wahrheit
zuließ, nämlich das Geständnis der Beschuldigten. Das Opfer: die Witwe Anna
Schwäblin.
Anna hatte zunächst als Klägerin ein Verleumdungsverfahren gegen ihre
Nichte Margaretha Staiger, Ehefrau des Stefan Staiger, angestrengt, die sie
als ‘Unholdin’, also als ‘Hexe’, diffamiert hatte. Sie wolle diese schwere
Beleidigung nicht auf sich sitzen lassen und erhoffe sich, dass Margaretha der
Verleumdung für schuldig befunden werde, wie es ihre Ehre verlange, so Anna
Schwäblin, die Klägerin. Margaretha Staiger, die Beklagte, erwiderte, sie
bleibe dabei, Anna sei eine Hexe. Man solle diese ‘peinlich befragen’, also
unter Anwendung der Folter verhören und ins Gefängnis werfen, damit sie
nicht entweichen könne. Der Vorsitzende des Gerichts, der Gemmingische
Schultheiß Andreas Rüb, ein vorsichtiger und kluger Mann, ließ den Riva-
linnen die Möglichkeit, ihre Anschuldigungen zurückzunehmen. Doch unter
Anrufung des Allmächtigen wiederholen, ja bekräftigen beide beharrlich ihre
Standpunkte. Schultheiß Rüb lässt daraufhin die Zeugen der Margaretha
Staiger, Hans Scherer und Wilhelm Schmidt, aussagen. Beide erzählen eine
abenteuerliche Geschichte, die Wilhelm Schmidt ein Jahr zuvor erlebt haben
will und die er Hans Scherer anvertraut hatte. Er sei außerhalb von
Gemmingen von einer Frau angegangen worden, die ihn mehrmals zum Tanz
aufgefordert habe. Er meine zwar, dass diese Frau Anna Schwäblin gewesen
sein könnte, doch er sei zu betrunken gewesen und könne es nicht mit
Gewissheit sagen. Aufgrund der Zeugenaussagen - der eine war betrunken,
der andere wusste nur etwas vom Hörensagen - kann keine Anklage erhoben werden. Man vertagt sich auf
den 21. Juni 1563. An diesem Tag erscheint Margaretha Staiger mit acht weiteren Zeugen, die ihre
Behauptung, Anna Schwäblin sei eine Hexe, untermauern sollen. Alle Zeugen erzählen absonderliche und zum
Teil abstruse Geschichten von Dritten, die Anna als ‘Unholdin’ bezeichnet hätten, andere beschuldigen sie,
verantwortlich für den Tod eines Kalbs oder für die Krankheit eines Kindes zu sein, und wieder ein anderer will
Anna Schwäblin gemeinsam mit der arglistigen, bereits verstorbenen Anna Meßner, einem ‘teuflischen Weib’
aus Schwaigern, in der milchigen Glaskugel einer Wahrsagerin gesehen haben.
Nachdem beide Frauen abermals auf einem Urteilsspruch beharren, steht Schultheiß Rüb vor einem Dilemma.
Soll er die wegen Verleumdung Angeklagte Margaretha Staiger schuldig oder freisprechen? Spricht er sie frei,
ist Anna Schwäblin der Hexerei anzuklagen, spricht er sie schuldig, kommt vielleicht eine Hexe frei. Also holt
der besonnene Mann Rechtsgutachten in Heilbronn und Speyer ein. Beide Gutachten empfehlen, Margaretha
Staiger nicht wegen der Verleumdung zu verurteilen, sondern Anna Schwäblin ‘des Hexenwercks halber’ vor
dem Malefizgericht anzuklagen. In diesem Sinne verkündet Schultheiß Rüb am 12. Juli 1563 ein erstes Urteil.
Beim Verlassen des Rathauses wird Anna Schwäblin festgenommen und als nunmehrige Angeklagte in der
Ratsstube an eine Kette geschmiedet. Tags darauf schickt der Ortsherr, Dietrich von Gemmingen, seinen
Amtmann Erasmus von Olnhausen, der die weitere Untersuchung leiten soll, und Daniel Setzlin, Schulmeister
an der Lateinschule und Gerichtsschreiber, zu Anna Schwäblin. Sie sollen die Angeklagte zu einer Aussage
bringen. Anna beteuert in dem Verhör, sie habe nichts mit Hexenwerk zu tun. Zwar nennt sie Margaretha
Staiger ein ‘neidisches Weib’, doch sie bezichtigt sie weiterhin lediglich der Verleumdung. Auch zu Anna
Meßner, dem ‘teuflischen Weib’ aus Schwaigern, habe sie nicht mehr Kontakt gehabt,
wie Nachbarn ihn haben. Auf den Hinweis, sie solle ihre Sünden bekennen und
gestehen, um eine milde Strafe zu bekommen, antwortet Anna, sie sei keine Hexe und
könne doch nicht lügen, um etwas zuzugeben, was nicht stimme. Auf Anordnung des
Ortsherrn wird Anna daraufhin in den Gefängnisturm beim ‘Unteren Schloss’ gebracht
und an zwei Ketten geschmiedet. Weder ein Prediger noch Dietrich von Gemmingen, die
am 19. Juli im Beisein des Scharfrichters Veltin erscheinen, können Anna zu einem
Geständnis bewegen. Aber ohne Geständnis gibt es keine Verurteilung! Und nun
geschieht, was nach damaliger Rechtsauffassung zwangsläufig zu geschehen hat: Anna
muss ‘peinlich befragt’ werden, sich also der Folter unterziehen. Veltin bindet ihr die
Hände auf den Rücken und zieht sie über eine Rolle den Turm hinauf. Als sie nicht
gesteht, bindet er ein Gewicht an ihre Füße und zieht sie
wieder hinauf. Anna gesteht noch immer nicht. Die Folter wird
wiederholt, bis sie halb ohnmächtig vor Schmerz zu reden
beginnt. Sie, Anna, sei zu ihrer Nachbarin gerufen worden,
deren Kalb krank gewesen sei. Grün und gelb sei es aus
dessen Maul gelaufen; sie habe versucht das Kälbchen
aufzurichten, doch es sei gestorben. Gefragt, ob der Satan sie
heimgesucht habe, verneint sie. Darauf wird die Folter
wiederholt. Am folgenden Tag gibt Anna aus Angst vor
weiterer schwerer Folter dem Gerichtsschreiber zu Protokoll, der Satan sei in Gestalt
eines hübschen, jungen Mannes mit schwarzem Rock und Hut und einem lustigen
Bärtlein des Nachts in ihr Bett gekommen, er heiße Clingle und sie habe ‘Mannsliebe
mit ihm gepflegt’; auch habe sie Clingle zum Hexentanz begleitet. Nach Drohung
weiterer Folter gibt Anna zu, sie habe auf Clingles Anweisung hin ein Unwetter
hervorgerufen, das aber keinen Schaden angerichtet habe. Außerdem habe sie Gänse
und Ziegen getötet, aber niemals einem Menschen Leid zugefügt. Doch nach
Androhung weiterer Folter gibt Anna auch das zu. Tags darauf widerruft Anna Schwäblin ihre gesamten
Aussagen, worauf ihr Folter für den Freitag angekündigt wird. Am Donnerstag gibt Anna alle ihr zur Last
gelegten Untaten als ‘Unholdin’ zu - die Folter wird ausgesetzt. Am Samstag widerruft sie erneut und bekennt
sich für unschuldig. Sie habe nur gestanden, was sie aus Geständnissen von anderen verurteilten ‘Hexen’
gehört habe, um der Folter zu entgehen. Darauf wird Scharfrichter Veltin auf den kommenden Donnerstag
einbestellt. Er soll die ‘peinliche Befragung’ fortsetzen, um die Wahrheit herauszufinden. Als er Anna fesselt
und für die Folter vorbereitet, bekennt sie sich aller Taten schuldig. An den folgenden Tagen wird Anna weiter
verhört. Am 6. August widerruft sie ein weiteres Mal. Der Ortsherr lässt ihr drohen, der Scharfrichter werde
mit aller Härte gegen sie vorgehen, wenn sie weiterhin so wankelmütig sei. Darauf erkennt Anna Schwäblin die
Ausweglosigkeit ihrer Lage. Sie erklärt, sie könne sagen, was sie wolle, es werde ihr ja ohnehin nicht
geglaubt; die ganze Gemeinde Gemmingen habe sie dem Teufel übergeben, aber sie sei unschuldig. Auch die
Kinder der Anna Schwäblin werden verhört. Sie belasten die Mutter nicht, sondern reden gut über sie. Auf
Montag, den 30. August, wird der Scharfrichter wieder einbestellt. Er foltert Anna, doch sie bleibt zunächst
standhaft. Erst nach härtesten Torturen gesteht sie. Nun ist ihr Wille gebrochen. Sie begibt sich in ihr
Schicksal und erklärt, sie wolle den ‘Tod gern erleiden’. Vor den sieben Gerichtsmännern des Malefizgerichts
zu Gemmingen wiederholt Anna ihr Geständnis. Damit steht das Todesurteil durch Verbrennen fest. Dietrich
von Gemmingen setzt den Termin auf Mittwoch, den 15. September 1563. Zwar fehlt in den Akten der
Urteilsspruch und die Beschreibung der Hinrichtung, doch die Protokollaufschrift lässt keinen Zweifel an ihrem
tatsächlichen Vollzug:“Actum, nach dem Jung Anna Schwäblin Hexenwercks halber eingezogen und peinlichen
gefragt, auch verbrandt worden.”